Bei einem meiner letzten Trainertrainings – dieses Mal in Taiwan – haben mir einige der Teilnehmer wieder einmal bestätigt, dass sie Videoaufnahmen ihrer Vorträge in ihren Trainings und Ausbildungen einsetzen. Gleichzeitig lese ich in einer aktuellen Studie über veröffentlichte Literatur zum Thema „Inverted Learning“, dass dies in den letzten fünf Jahren zunehmend weltweit bearbeitet worden ist. An der Spitze der Beiträge stehen die USA und Malaysia, weiter am Ende werden UK und Norwegen erwähnt – Fachliteratur aus Deutschland dazu gibt es allerdings nicht[1].
Ist das Thema Flipped Classroom als eine Form des Blended Learning in Deutschlands Trainerkreisen noch nicht angekommen?
Das ist eigentlich erstaunlich, denn es gibt sowohl deutsche Homepages zum Flipped Classroom[2] als auch deutschsprachige Vorträge darüber bei Youtube [3].
Der Aufbau
Die Idee des Flipped Classroom – oder Inverted Learning oder auch Inverted Classroom – besteht darin, dass grundlegende Inhalte und Informationen aus dem Präsenztraining herausgenommen werden und auf einer Online-Plattform möglichst als Video vorab zur Verfügung gestellt werden. In dieser Unterrichtsmethode werden also die üblichen Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Trainings zum Teil „umgedreht” – denn schon seit Schulzeiten lernen wir ja, in dem das „Neue“ im Unterricht dargestellt wird und wir dies individuell daheim nacharbeiten. Dieses Vorgehen wird nun (teilweise) umgedreht; wichtige Inhalte sind bereits bekannt, wenn die Teilnehmer sich in der Präsenzveranstaltung treffen, die zur gemeinsamen Vertiefung des Gelernten genutzt wird.
Dabei werden offensichtlich einige Probleme gelöst und Vorteile genutzt:
Für Unternehmen
Das Problem:
Ihre Mitarbeiter nehmen an längeren, mehrtägigen Trainings teil, und Kosten und Fehlzeiten fallen an; sie haben ein Interesse daran, ihre Mitarbeiter an kurzen und überschaubaren Präsenztrainings teilnehmen zu lassen
Der Vorteil:
Durch Inverted Learning wird Informationsvermittlung aus der Präsenzphase herausgenommen und so die Präsenztrainingszeit insgesamt verkürzt. Kosten für längere Abwesenheit vom Arbeitsplatz und für längere Trainings werden dadurch gesenkt.
Für Trainer
Das Problem:
Trainer stehen vor der Aufgabe, umfassende und komplexe Themenbereiche in möglichst kurzer Zeit zu vermitteln.
Die Vorteile:
Durch die inhaltliche Auslagerung in vorgelagerte Informationsblöcke haben sie in ihrer Präsenzphase mehr Zeit für individuelle und spezifische Diskussionen und Fallbearbeitungen. Außerdem: Einmal erstellte digitale Lernmaterialien sind wiederverwertbar, Inhalte müssen nicht erneut vorgetragen werden. Inhaltlich ähnliche Veranstaltungen können mit geringerem Aufwand angepasst werden, z.B. indem dieselben Unterlagen genutzt, die Präsenzveranstaltungen und Aufgabenstellungen jedoch zielgruppen- und kursspezifisch aufgearbeitet werden.
Für Teilnehmer
Das Problem:
Lernende werden in Präsenztrainings mit einer Fülle von Inhalten versehen, die in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit zwar zunächst verstanden, allerdings oft nicht geübt, ausprobiert und gelernt werden.
Die Vorteile:
Durch ein vorab online bereitgestelltes Informationsangebot haben sie die Möglichkeit, Inhalte zu individuell passenden Zeiten und so oft wie möglich anzusehen und zu erarbeiten. Dabei können sie ihr Lerntempo und ihre Lernstrategie selbst bestimmen, bei Bedarf Aufzeichnungen anhalten, wiederholen oder auch zusätzliche Informationen hinzuziehen, z.B. ergänzend online recherchieren. Und: In Lerngruppen werden zusätzlich eventuelle Defizite aufgearbeitet; auch auf diese Weise kann heterogenes Vorwissen ausgeglichen werden.
Mögliche Nachteile
Digitale Materialien allgemein und insbesondere Videoaufzeichnungen können als Medialisierung des Frontalunterrichts verstanden werden. Anders als in Präsenzveranstaltungen besteht keine Möglichkeit zum direkten Nachfragen, wenn etwas nicht verstanden wurde. Insofern: Bitte verstehen Sie Inverted Learning nicht als einen 100%igen Ersatz für Präsenztrainings; es geht lediglich um die Auslagerung grundlegender Informationen.
Ein weiterer deutlicher Nachteil beim Erstellen des Materials liegt darin, dass der Aufwand relativ hoch ist: Alle Themen des jeweiligen Trainings müssen behandelt und entsprechend aufbereitet werden; das bloße Abfilmen und Hochladen von früheren Trainingssequenzen ist meist nicht ausreichend.
Mein Tipp hierzu:
Erstellen Sie einfache „Barfuß-Videos“, also kurze Videos, die Sie zunächst mit einfachen technischen Mitteln anfertigen. Als Kamera können Smartphone und Tablet dienen, als Visualisierung nehmen Sie Flipchart und Karten. [1]
Tipps für die Selbstlernphase
- Strukturieren Sie: Ein klarer zeitlicher Ablauf und eine übersichtliche inhaltliche Struktur erleichtern den Lernenden die Gestaltung ihres Lernprozesses, z.B. durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen.
- Geben Sie weitere Hilfestellungen: Durch Methoden und Tools wie Leitfragen, weiteren Links, Lückentexten usw. fördern Sie die aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten.
- Nutzen Sie Anreizsysteme: Bieten Sie Überprüfungen an, ob die Inhalte wirklich verstanden wurden, z.B. durch automatisch auswertbare Übungsaufgaben oder auch durch Highscore-Systeme.
Die Gestaltung der Präsenzphase
Beim Inverted Classroom muss auch die Präsenzphase anders gestaltet werden als üblich, um ihr Potenzial wirklich zu nutzen. Bitte beachten Sie dabei folgende Tipps[2]:
- Sprechen Sie Probleme an: Welche Schwierigkeiten sind beim Lernen mit den Videos, Audios oder Texten aufgetreten? Es sollte genug Zeit für Verständnisfragen und das nochmalige Durchgehen zentraler inhaltlicher Punkte usw. geben. Und übrigens: Nutzen Sie das Feedback; notieren Sie sich die Fragen, um Ihre Materialien gegebenenfalls zu überarbeiten.
- Bearbeiten Sie Aufgaben gemeinsam: Stellen Sie Aufgaben, um zu überprüfen, ob die Inhalte verstanden wurden. Nutzen Sie unterschiedliche Sozialformen, z.B. die Ich-Du-Wir-Methode: Zunächst arbeiten die Studierenden alleine, dann im Austausch mit den Sitznachbarn und schließlich wird die Aufgabe im Plenum besprochen.
- Aktivieren Sie das gesamte Plenum: Z.B. moderieren zwei Lernende die Lösung einer Aufgabe, während der Trainer lediglich bei Bedarf eingreift. Der Schwerpunkt liegt auf dem gemeinsamen Prozess der Problemlösung und der Strategieentwicklung, auf dem Umgang mit Fehlern und unterschiedlichen Lösungswegen. Die Bearbeitung des Inhalts ist hierbei sehr intensiv.
Ein Ausblick
Wie Sie nun wahrscheinlich festgestellt haben, öffnen sich für uns als Trainer bei diesem Thema des Inverted Learning viele Möglichkeiten, sehr abwechslungsreich vorzugehen:
Als Einstieg in das methodisch Neue können wir mit einem einfachen „Barfuß-Video“ den Lernenden Vorab-Informationen zuschicken,
in einem weiteren Schritt umfangreichere Materialien erstellen,
und schließlich nutzen wir die Vorteile aktiven und erfolgreichen Lernens eventuell auch durch die schrittweise Umgestaltung und Ergänzung unseres Präsenztrainings.
Vielleicht tragen ja dann unsere Erfahrungen dazu bei, dass wir unsere Trainingsmethoden weiterhin verfeinern und effektiver gestalten - und unter anderem weitere Artikel zum Thema Flipped Classroom auch in der deutschsprachigen Literatur erscheinen.
[1] Ein kurzer Überblick dazu in https://www.youtube.com/watch?v=mZKC_GCohcE
[2] Vgl. hierzu in https://www.slideshare.net/cspannagel/was-mache-ich-eigentlich-in-der-prsenzphase; abgerufen am 3.10.17.
[1] https://www.researchgate.net/publication/318319489_The_Emerging_Trend_of_the_Flipped_Classroom_A_Content_Analysis_of_Published_Articles_between_2010_and_2015; abgerufen am 3.10.17
[2] z.B. https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=9&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwi3h7Sm19bWAhUMWhoKHdJhDqsQFghtMAg&url=http%3A%2F%2Fwww.fliptheclassroom.de%2F&usg=AOvVaw18hudABenqIeoVcpu4TvOs; abgerufen am 3.10.17
[3] Z.B. sehr ausführlich in https://www.youtube.com/watch?v=ruRbdLaloMY ; oder kürzer in https://www.youtube.com/watch?v=3ddbzXKfTTE oder https://www.youtube.com/watch?v=BS1XCjWpnww; jeweils abgerufen am 3.10.17
(Fotos:
"Unternehmen": Fotolia © tayukaishi
"Trainer: Fotolia © luckybusiness
"Teilnehmer: Fotolia © ivanko80 )
Commenti